Interview von Christine Prussky, erschienen am 25.02.2017 in der Süddeutschen Zeitung
Die Digitalisierung eines Betriebs betrifft nicht nur Produktion und Vertrieb, auch das Geschäftsmodell muss hinterfragt werden
Mehr als 90 Prozent aller Betriebe zählen in Deutschland zum Mittelstand. Zusammen beschäftigen sie fast 30 Millionen Menschen. Bei den meisten von ihnen ist die Digitalisierung noch nicht in vollem Umfang vollzogen. Was das heißt, erklärt Holger Hütte. Der promovierte Maschinenbauer lehrt an der privaten Hochschule Weserbergland, sein besonderes Interesse gilt dem digitalen Wandel.
SZ: Mittelständler verbinden mit der Digitalisierung ihres Betriebs in erster Linie Effizienzsteigerungen in Herstellung und Vertrieb, etwa die Einführung eines Warenwirtschaftssystems. Sind sie damit auf der richtigen Spur?
Holger Huette: Ja, und nein. Ja – weil die digitale Transformation in der Produktion sehr wichtig ist. Diese steht aber eben nicht an erster, sondern an vorletzter Stelle unternehmerischen Handelns und Denkens. Wer damit beginnt, zäumt das Pferd von hinten auf.
SZ: Welche Abfolge wäre denn Ihrer Meinung nach sinnvoll?
Holger Huette: Ganz wichtig, kleine und mittlere Unternehmer dürfen ihr Augenmerk nicht nur auf den technischen Teil der Digitalisierung legen. Sie müssen sich auf den Anfang des Wertschöpfungsprozesses fokussieren und als erstes ihr aktuelles, analoges Geschäftsmodell kritisch hinterfragen. Sie müssen ernsthaft überprüfen, ob ihr Produkt, ihr Wertversprechen an die Kunden, auch in fünf Jahren noch tragfähig ist. Dafür müssen sie genau wissen, worin exakt der Kern ihres Geschäftsmodells besteht und der eigentliche Kundennutzen liegt.
SZ: Es klingt, als wäre dem nicht immer so.
Holger Huette: Viele Schornsteinfeger beispielsweise glauben bis heute, dass trotz moderner Heizungs-, Regelungs- und Überwachungstechnik der Kundennutzen keine große Rolle spielt. Das Serviceangebot ließe sich mit einer gezielten Informationserfassung bei den Haushalten sicherlich nutzenorientierter definieren. Es gibt aber auch positive Beispiele. So hat eine ganze Reihe von Wurstherstellern die Angreifbarkeit des bisherigen Geschäftsmodells erkannt und bietet vor dem Hintergrund des sich ändernden Ernährungslifestyles nun Wurst ohne Fleisch an.
SZ: Schön, aber was hat das mit Digitalisierung zu tun?
Holger Huette: Digitalisierung meint eben viel mehr als Produkt- und Prozessinnovation. Viel entscheidender als Innovationshebel ist die Schaffung neuer Werte und Angebote. Neue Geschäftsmodelle können beispielsweise auf der digitalen Erfassung des Zielgruppenverhaltens basieren. Die Geschäftsmodellinnovation stellt den strategischen Teil der Digitalisierung dar. Viele kleine und mittlere Unternehmen tun sich da noch schwer.
SZ: Das heißt?
Holger Huette: Schwächen am eigenen Geschäftsmodell werden bewusst oder unbewusst nicht thematisiert. Ein riesiger Fehler! Wer seine Überlegungen zum Geschäftsmodell heute im stillen Kämmerlein mit sich ausmacht, vergibt die große Chance auf Wertschöpfung, die mit der Digitalisierung einhergeht. Sie zwingt Geschäftsinhaber dazu, sich schneller Gedanken über die eigene Innovationsstrategie zu machen.
zur Startseite
©SZ vom 25.02.2017